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Hermann Deutschbein ist Kriegskind


Euenheim im April 1945. Der 10-jährige Hermann sitzt auf dem Rohr einer zerstörten Feldhaubitze. Sein jüngerer Bruder, seine
ältere Schwester und seine Eltern freuen sich über das Ende der Kriegsschrecken, dass die US-Army Anfang März dem Kreis
Euskirchen bescherte. Allenthalben fanden sich noch Überbleibsel der letzten Kampfhandlungen: Waffen, Munition und die
zertörte Haubitze, die zwischen Schulhaus und Kirche hinterlassen wurde

Die Geschichte von Hermann Josef Deutschbein, der von Freunden immer nur Hermann genannt werden will, begann mit seiner Geburt im Jahre 1935. Die Deutschen steckten damals in einer Diktatur, der Partei- und Führungsriege alle Deutschen damals in den Zwang nahm, höchst menschenverachtende Ziele zu verfolgte, einschließlich der totalen Vernichtung derjenigen, die sich diesen Zielen verweigerten. Aber davon bekam der kleine Hermann noch nichts mit. Sein Vater Wilhelm war zu der Zeit Hauptlehrer in Euenheim, einem damals ca. 700 Einwohner zählenden kleinen Dorf, zwei Kilometer westlich von Euskirchen gelegen und seit 1969 zu Euskirchen gehörend. Die Familie zählte fünf Kinder, von denen Hermann das zweitjüngste war. Sie lebten in einer Dienstwohnung in den beiden oberen Stockwerken des Schulgebäudes. Bei den Dorfschulen war es noch bis in die 1960er Jahre üblich, das der Hauptlehrer mit seiner Familie die in der Schule befindliche Lehrerwohnung „aus naheliegenden Gründen“ bewohnte. Es war das Gebäude der katholischen Volksschule, in dem der Vater die Oberklasse aus 5. bis 8. Schuljahr unterrichtete und ein Junglehrer und eine Junglehrerin die Unterklasse aus 1. bis 4. Schuljahr.

Hermann Deutschbeins Erinnerungen an seine frühe Kindheit beginnen dort, wo Deutschland einem Großteil der Welt schon den Krieg erklärt hatte. Zunächst war der Krieg noch sehr weit weg, fand vorwiegend in den Gesprächen der Erwachsenen statt und hin und wieder in einem feindlichen Flugzeug am Himmel. Die nahmen ab 1943 zu und ab 1944 kam der Krieg schließlich mit so großen Schritten und so gewalttätig, dass wegen der zunehmenden Tiefflieger- und Bombenangriffe, bevorzugt auf das nahe Euskirchen, ab Jahresmitte kaum noch Unterricht stattfand. Hermann war da neun Jahre alt.

Nach vereinzelten Bombenabwürfen ab 1940 erlebte Euskirchen am 20. Juli 1944 einen massiven Angriff durch einen großen Bomberverband. Wenig später zogen auch die ersten Trecks von Flüchtlingen aus dem frontnahen Westen über die Landstraße weiter nach Osten. Auf Leiterwagen und auf Pferdeanhänger hatten diese ihre wichtigsten Habseligkeiten verladen und oft auch noch Ziegen und Kühe im Schlepp. Im September 1944 nahmen diese Flüchtlingstrecks massiv zu, wie auch die Bombenangriffe insbesondere aufs nahe Euskirchen.


Das bis in die 1970er Jahre genutzte Schulhaus ist später zum katholischen Jugendheim umfunktioniert worden. Im erstenGeschoss und im Dachgeschoss befanden sich die Wohnräume des Hauptlehrers und seiner Familie. Hier war Hermann als Kind zu Hause. Im Hintergrund Chorapsis und Schiff der Pfarrkirche.


In der Giebelwand sind die Fenster zu den ehemaligen Klassenräumen zu finden. Beide Fotos stammen aus 2020

Die Schule war voller Stroh, auf dem die Soldaten schliefen

Obwohl Hermann damals gerade neun Jahre alt war, sind ihm die Ardennen-Offensive und die Kämpfe im Hürtgenwald auch heute noch sehr bewusst in Erinnerung. Es wurde seit der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944 öfters das Radio eingeschaltet,. Die Erwachsenen wollten wissen, wo die Front im Westen stand und wie sie immer näher rückte. Während aus dem Radio immer öfters das Wort „Endsieg“ ertönte, waren die die Erwachsenengespräche mehr mit Sorge erfüllt. Im Herbst 1944 hatte man die Klassenräume der Euenheimer Volksschule mit Stroh ausgelegt. Der Schulunterricht fiel jetzt aus, weil die Schulräume als Unterkunft und Schlafräume für die Soldaten auf ihrem Weg nach Nordwesten zum Aufmarsch für die Adrennen-Offensive dienen mussten. Den Soldaten waren die Kinder des Lehrers offenbar eine angenehme Abwechslung und Entspannung bei allen den trüben Gedanken, die sich um das unbekannte noch vor ihnen liegende Elend drehte. Das Kriegsglück der ersten Jahre war nach nunmehr fünf Kriegsjahren war insbesondere bei den älteren Soldaten spürbar verflogen. Die Heldenrolle, die ihnen täglich von der Propaganda zugewiesen wurde, machte sie nicht wirklich glücklich. Hermanns ältester Bruder Ludwig war im Frühsommer 1944, im Alter von gerade einmal jugendlichen 17 Jahren schon zum Soldatendienst gezogen wurde. An der Brücke von Arnheim kam der im September 1944 in englische Kriegsgefangenschaft und verbrachte mehr als zwei Jahre in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager im englischen Southhampten. Über das Schicksal des ältesten Bruders herrschte in der Familie viel quälende Ungewissheit, wenn auch seine frühe Kriegsgefangenschaft ihm weitere sinnlose und gefährliche Kampfeinsätze ersparte und in der Rückschau als glücklicher Umstand gewertet werden kann. Die übrigen Deutschbein-Kinder sahen in diesem Herbst in ihrer Schule zahlreiche Soldaten kommen und gehen. Für alle war die Zukunft in jeder Hinsicht überaus ungewiss. Unter diesem Eindruck fanden persönliche Begegnungen statt. Einzelne Soldatengesichter sind Hermann noch heute in Erinnerung, ohne deren Namen oder weiteres Schicksal zu kennen. Viele dieser Soldaten erlebten das Kriegsende nicht mehr. Die großen Soldatengräberfelder in der Gemeinde Hürtgenwald und um die belgischen Orte Bastogne und Lommel erzählen auch heute noch davon.


Anfang 1945 Euskirchen, zerstörtes Rathaus
Foto aus Hans-Dieter Arntz: Kriegsende 1944/1945 Zwischen Eifel und Ardennen, Euskirchen 1984, Seite 469

Mit der Front kamen die Angriffe

Auch in Euenheim nahmen ab Dezember 1944 die Tieffliegerangriffe deutlich zu. Die Piloten schossen dabei auf alles, was sich vor ihnen auf dem Boden bewegte. Man konnte sich kaum aus dem Haus bzw. aus dem mit Stützpfählen „luftschutzsicher“ gemachten Keller heraus trauen. Die Front im Westen rückte näher. Im Februar 1945 geriet Euenheim in das Schussfeld der amerikanischen Artillerie. Da fand das Leben schon fast ausschließlich im Keller statt. Als Hermann in jenen Tagen die Schultoilette aufsuchen musst, schlug im Garten der Schule prompt eine Artilleriegranate ein und er wurde von einem kleinen Grantsplitter im Gesicht getroffen. Die Wunde blutete heftig, hatte jedoch außer der auch heute noch sichtbaren Narbe und der bleibenden Erinnerung daran keine weiteren Folgen.


Den Schrecken der Bombenangriffe verdeutlicht im an Euenhein nahe angrenzenden Ort Wißkirchen ein auf dem Friedhof befindliches Kriegsgräberdenkmal. Bei nur einem Bombenangriff am 08. Oktober 1944 verloren gleich drei Familien einen Großteil ihrer Mitglieder, insgesammt starben bei dem Angriff 16 Personen aus Wißkirchen


Ende 1944 Euskirchen, Bahnhofstraße, brennende Häuser
Foto aus Hans-Dieter Arntz: Kriegsende 1944/1945 Zwischen Eifel und Ardennen, Euskirchen 1984, Seite 440


Anfgang 1945 Euskirchen, Bahnhof
Foto aus Hans-Dieter Arntz: Kriegsende 1944/1945 Zwischen Eifel und Ardennen, Euskirchen 1984, Seite 440


Anfgang 1945 Euskirchen, Marktplatz
Foto aus Hans-Dieter Arntz: Kriegsende 1944/1945 Zwischen Eifel und Ardennen, Euskirchen 1984, Seite 440

Die Amerikaner sind da

Am 4. März 1945 kamen schließlich die Amerikaner in Euenheim an. „In unserem Schulkeller war eine Funkstation für die deutsche Artillerie, die im Billiger Wald stand und von dort das Straßenkreuz in Frauenberg unter Beschuss hielt,“ berichtet Hermann. „Als die Amerikaner über die alte Landstraße die ersten Häuser von Euenheim erreichten, da flüchteten die letzten deutschen Soldaten aus dem Schulkeller durch die Gärten in Richtung Tuchfabrik und Euskirchen. Im Schulkeller blieb die komplette Funkstation einschließlich Telefon zurück. Erst am Tag danach wurde Euskirchen von den Amerikanern eingenommen.

Als diese deutschen Soldaten den Ort verlassen hatten, wollte Hermanns Vater nicht länger im Schulkeller verbleiben. Aus einem weißen Bettlaken wurde rasch eine weiße Fahne gefertigt und diese schwenkend zog er anschließend den vorsichtig einrückenden amerikanischen Soldaten entgegen. Er machte ihnen sodann klar, dass im Dorf keine deutschen Soldaten mehr seien und nicht mit Widerstand gerechnet werden müsse. Die amerikanische Einnahme Euenheims erfolgte deshalb relativ schnell und ohne weitere Zerstörungen. Die am selben Tag eingenommene Stadt Euskirchen wies indessen sehr starke Zerstörungen auf. Die Industrie der Kreisstadt, die in hohem Maße aus Tuchfabriken bestand, war da zu 95 Prozent zerstört.


5. März 1945. Der erste amerikanische Panzer (M26 Pershing) durchfährt das Zentrum von Euskirchen.
Bei einer Vergrößerung des Bildes sind die Zerstörungen detailgenauer zu erkennen Bild vergrößern
Foto: US-Army, aus Hans-Dieter Arntz: Kriegsende 1944/1945 Zwischen Eifel und Ardennen, Euskirchen 1984, Seite 476

Gefährliches Spiel mit dem Feuer

Als die Amerikaner da waren, da war das bei weitem nicht so schlimm, wie zuvor von der nationalsozialistischen Propaganda im Rundfunk und in der Zeitung hersufbeschworen wurde. Die Kinder durften draußen spielen, und zwar ohne Gefahr aus der Luft fürchten zu müssen. Die Gefahr steckte vielmehr in den Massen von unverbrauchter und allerorten zurückgelassener deutscher Munition, Granaten und Kartuschen der Artillerie. Die Amerikaner hatten kurz nach ihrem Eintreffen noch andere Sorgen, als das Einsammeln und vernichten dieser Wehrmachts-Hinterlassenschaften. Weiter östlich lag die Front und dort ging der Krieg noch weiter. Insbesondere die Jungen indessen faszinierte alles, was schießen, explodieren und knallen konnte. Für sie boten sich in dieser Zeit einmalige Möglichkeiten, unkontrolliert von den Erwachsenen, ihrem natürlichen und zugleich gefährlichen Forschertrieb folgen zu können.

Hermann und sein jüngerer Bruder machten da keine Ausnahme. „Da lag haufenweise Pulver in Säckchen herum, aus den Granaten und den Kartuschen. Wir hatten auch damit gespielt und dabei einen kleinen Bollerwagen ganz voll mit Pulver gesammelt. Wir wollten das alles in die Luft jagen, aber ohne dass die Erwachsenen etwas davon mitbekamen. Deshalb transportierten wir das Pulver aufs Schulklo und gaben es dort in eine Kloschüssel. Der Zündversuch mit dem ersten Streichholz blieb ohne Erfolg; der Versuch mit dem zweiten Span brachte dann das Entflammen mit einer solchen Heftigkeit, dass mein Bruder zu seinem Eigenschutz noch schnell die bis dahin offene Klosett-Tür schloss, ich indessen vorne von unten bis oben von der großen Stichflamme heftig verbrannt wurde. Hände, Oberkörper und Gesicht hatten deutliche Verbrennungen. Nun war zu meinem Glück auch den Erwachsenen unser Spreng-Experiment nicht verborgen geblieben. Außer dem Ärger kümmerten diese sich nun um die Erste Hilfe für uns.
Allerdings zeigte sich dabei überdeutlich das Problem der kaum mehr funktionierenden Krankenversorgung. Es war kein Arzt zu finden und das Euskirchener Krankenhaus war in den letzten Kriegsmonaten stark zerstört worden. In der Stadt gab es nur noch ein kleines Lazarett-Krankenlager. Der komplette Krankenhausbetrieb war indessen im Herbst 1944 nach Arloff-Kirspenich verlegt worden. Die Amerikaner hatten allerdings in Wisskirchen, in der großen Fahrzeughalle der ehemaligen Spedition Vey, ein Durchgangslazarett eingerichtet. Dorthin eilte meine Schwester mit meinem jüngeren Bruder und mir hin und dort sah ich den ersten „Neger“, wie man damals noch sagte, bzw. dunkelhäutigen Menschen in meinem Leben. Meine zunächst bestehende Angst verschwand aber schnell, nachdem ich erkannt hatte, wie freundlich und nett insbesondere die dunkelhäutigen Soldaten waren. Überhaupt hatten uns Kranke die Amerikaner so sehr mit Einsatzverpflegung und Schokolade verwöhnt, wie wir es bis dahin nicht für möglich gehalten hätten. Mit Verbänden waren wir jedoch auch um den Kopf herum so sehr eingewickelt, dass wir nur mit Strohhalmen flüssige Nahrung aufnehmen konnten. Aber der vorsorgliche Umgang mit uns Kindern vergisst man im Leben nicht. Nach zwei Tagen verließen wir das freundliche amerikanische Lazarett und eine meiner Tanten, die von Beruf Hebamme war, versorgte unsere Brandwunden, bis schließlich auf die Verbände ganz verzichtet werden konnte“.

Hermanns Vater wird „Bürgermeister“

Die Amerikaner sahen in Hermanns Vater eine Persönlichkeit, der sie vertrauen konnten und setzten ihn kurzerhand als „Bürgermeister“ ein, der sich neben den Schulangelegenheiten nun auch vorrangig um die prekäre Versorgungssituation der Bevölkerung kümmern musste, bzw. um die Organisation von Lebensmitteln und die Beseitigung der schlimmsten Kriegsschäden zur Wiederherstellung der Infrastruktur. darüber schrieb er in der Schulchronik, die in Teilen von H.-Dieter Arntz in seinem hervorragenden Buch mit dem Titel „Kriegsende 1944/45“, Euskirchen 1984 abgedruckt ist.



05. März 1945, Euskirchen, Vuvenstraße/Hochstraße, US-Fernmelder verlegen Telefonleitungen.
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Foto: US-Army, aus Hans-Dieter Arntz: Kriegsende 1944/1945 Zwischen Eifel und Ardennen, Euskirchen 1984, Seite 477



Mit dem Einmarsch der US-Army machen deutsche Kinder die Erfahrung, dass dunkelhäutige Menschen so ganz anders sind. als von der NS-Propaganda angekündigt: Es gab Schokolade. Auch Auch Hermann Deutschbein machte diese überraschende und gleichwohl unvergessliche Erfahrung. Das Foto zeigt die in der US-Army jener Tage vorhandene typische Schokolade, in deren Genuss auch die Deutschbein-Kinder gelangten
Foto: Wikipedia
Ein sehr eindruckvolles Foto dazu in: Der Spiegel



Munition lag nach den Kampfhandlungen 1945 noch allenthalben herum. Vor allen Dingen fühlten die Jungen sich davon magisch angezogen. Das Bild zeigt in den 2010er Jahren gefundene alte Munitionsreste, die jedoch schon entschärft wurden. Besonders gefährlich war es, wenn die Granaten als solche explodieren konnten. Bei Hermann Deutschbein brante lediglich das aus den Granaten entfernte Pulver ab. Gefährliches Kinderspiel mit Munitionsfunden war nach dem Einmarsch der Amerikaner die Regel
Foto: Swissinfo weitere Fotos gibt es hier unter Der Spiegel


Blick in ein amerikanisches Feld-Hospital, wie man es sich in etwa auch in Wißkirchen im März 1945 vorstellen kann
Foto: https://www.med-dept.com/unit-histories/8th-field-hospital/


Das heutge Gebäude eines Autohauses in Wißkirchen an der Kommerner Straße gehörte 1945 einer Spedition Vey, in deren Fahrzeughalle das amerikanische Feldlazarett untergebracht war, in dem Hermann Deutschbein und sein Bruder nach dem Munitionsexperiment behandelt wurden.

Dank und Literaturhinweis

Hans-Dieter Arntz aus Euskirchen befasst sich seit Jahrzehnten mit der Dokumentierung von Themen rund um den Zweiten Weltkrieg, dem Nationalsozialismuss und dem Judentum im Rheinland einschließlich der Eifel. Wegen seines umfangreichen Schaffens wurde er bereits mehrfach auf höchsten Ebenen geehrt und ausgezeichnet.

An dieser Stelle danke ich Herrn Arntz nochmals ausdrücklich für seine freundliche Unterstützung, indem wir gleich mehrere Fotos aus seiner umfangreichen Sammlung im Rahmen dieses Portraits verwenden dürfen.

Wer sich noch mehr zu den Themen Kriegsende und Judentum unserer Region interessiert, der kommt an seinen hervorragenden Büchern nicht vorbei.
Siehe dazu http://www.hans-dieter-arntz.de/buecher.html

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Text: Hans Peter Schneider
Fotos: Sofern nicht in der Bildunterschrift angegeben, aus der Sammlung Deutschbein und Hans Peter Schneider